"Vertreibung meiner Seele"


Leiden unter den Neuroleptika, Christiane Vogel, Persönliches und Kunst, www.wesensausdruck.de


Im kürzlich herausgekommenen Buch "Psychopharmakotherapie und Empowerment
Ein Trainingsprogramm zum selbstständigen Medikamentenmanagement" von Uwe Bernd Schirmer

https://psychiatrie-verlag.de/product/psychopharmakotherapie-und-empowerment/

wurde von mir als eine der Coautorinnen der folgende leicht veränderte Text abgedruckt:


Ich bin in der Psychiatrie, auf der Geschlossenen.

Vor 2 Tagen bin ich freiwillig hier hergekommen auf der Suche nach Hilfe, weil sich in mir innerlich so viel abspielt ... und weil ich eine Stimme gehört habe, die weder gut noch böse zu sein schien und mich gerufen hat: "Wer kommt denn da..."

Ich sehe die langen schmalen Gänge, auf denen geraucht wird und auf denen sich alle Patienten aufhalten dürfen, schmale lange öffentliche Gänge, die paradoxerweise aber für mich, auf der Suche nach Intimität, die einzige Zufluchtsstätte bedeuten, wenn ich meinem engen 6-Bett-Zimmer für eine Weile entkommen will. Außerdem ist im Flur ein kleiner Mini-Spind, der einzige Ort, an dem ich meine Habseligkeiten verstauen kann.

Am ersten Tag bin ich immer noch sehr in meiner eigenen Welt und sehr beschäftigt mit den vielen Gedanken, Gefühlen, Assoziationen, kreativen Einsichten und dem "Sehen von Zusammenhängen", was auch ein Charakteristikum aller folgenden psychotischen Krisen sein wird.

Am zweiten Tag werde ich aufgefordert jetzt jeden Tag mehrere Tabletten zu schlucken, "mit denen es Ihnen bald wieder besser gehen wird". Mehr erfahre ich nicht über die Tabletten.
Nur an der Farbe wird mir in 2 Wochen auffallen, dass es nun andere Kapseln sind, dass Dosis oder Art des Medikaments wohl verändert worden sind.

Nachdem ich die Tabletten geschluckt habe, verändert sich meine Welt drastisch. Plötzlich ist nichts mehr wie es war.

Ich sitze auf der vorderen Stuhlkante in der Ecke auf dem Gang. Meine Finger verkrampfen sich um die Stuhllehne. Apathisch und mit starrem Blick sitze ich regungslos da, gleichzeitig unruhig und jederzeit auf dem Sprung, um wieder den Gang auf und ab zu laufen. Eine mir unerklärliche Sitzunruhe hat seit einigen Stunden plötzlich von mir Besitz ergriffen und ein unaufhörlicher Bewegungsdrang lässt mich keine 2 Minuten auf einem Stuhl zur Ruhe kommen. Habe ich die Kontrolle über mich verloren? So erschöpft ich auch bin, ich MUSS laufen..., laufen, laufen, nur um mich dann, beim Stuhl wieder ankommend, mit der verzweifelten Sehnsucht nach Ruhe und Ankommen, wenige Minuten kramphaft an ihm festzuhalten... und nur, um gleich darauf wieder los zu laufen.....
Den ganzen Tag..., manchmal die ganze Nacht..., 24 Stunden lang.. .

Ebenso wie mein Blick sind meine Glieder und meine Bewegungen starr und steif geworden. Ich bewege und fühle mich wie ein Zombie.

In mir ist vollkommene gedankliche Leere. Es ist auch nicht mehr möglich "nach rechts" oder "nach links" zu denken und die Gedanken können auch nicht kreisen oder sich zentrieren.

Mein Körper im schmalen langen Psychiatrie-Gang
- noch schmaler und eingleisiger der dunkle Tunnel in meinem Kopf.

Mit den "Wahnvorstellungen", die ich mithilfe der Neuroleptika nun nicht mehr wahrnehme, nicht mehr wahrnehmen soll, sind auch alle anderen Gedanken und Assoziationen oder kreativen Regungen verschwunden.
Natürlich auch die Einfälle, Eingebungen und das "Sehen" von Zusammenhängen, die ich vermutlich nicht sehen soll, weil sie "als psychotische Symptome" bekämpft werden müssen.

Doch damals weiß ich weder etwas von Symptomen, noch von Diagnosen, noch kenne ich meine eigene Diagnose.

Eine einzige Verwirrung in mir:
Was ist nur plötzlich mit mir "passiert"?
Warum fühle ich mich auf einmal so furchtbar elend?

Der Pfleger sagt:
"Sie sind krank. Was Sie wahrnehmen und fühlen, ist Ihre Krankheit, Ihre Psychose. Doch wir werden das in den Griff bekommen".
Dann eilt er von dannen. Auch er scheint "auf dem Sprung" zu sein.

Nur schemenhaft nehme ich einen Mitpatienten wahr, der laute Parolen von sich gibt.
Plötzlich - ich erschrecke - 4 weiß gekleidete Männer stürzen sich auf ihn und packen ihn. Er wehrt sich lautstark, schlägt um sich. Gemeinsam halten sie ihn fest und zerren ihn in ein Zimmer.
Doch nur mein Unterbewusstsein erfasst das Geschehen.
Es zeichnet alles auf, nimmt alles wahr.
Der Schreck sitzt tief.
Doch mein Bewusstsein scheint sich verschlossen zu haben,
zusammen mit der Tür, die sich hinter meinem Mitpatienten schließt.

Während ich auf die geschlossene Tür starre,
machen sich dumpfe Gefühle von Hoffnungslosigkeit breit.

Mich selbst, mein komplettes Innenleben, mein Er-Leben
- Es scheint nicht mehr zu existieren. Ich habe es verloren.
Die, die ich mal war, gibt es nicht mehr.

Angst umklammert mich. Verzweiflung greift nach mir.

Werde ich jemals wieder etwas von der Christiane vor zwei Tagen spüren? Werde ich jemals wieder diese Christiane in mir finden?

Doch bevor es mir überhaupt gelingt, irgendeinem vagen Gedanken oder dumpfen Gefühl nachzugehen, muss ich auch schon wieder loslaufen.....

An diesem zweiten Tag weiß ich noch nicht, dass diese Situation über Wochen so anhalten wird, ohne jegliches Gespräch mit irgendjemand, ohne weitere Beschäftigung,
nur unterbrochen vom Essen und Schlafen.

Ich bin vor 2 Tagen gekommen, weil ich Hilfe suchte.
Ich habe mich in die Obhut derer gegeben, die mir Hilfe versprachen.
Ich habe vertraut.
Ich war arglos vor zwei Tagen, ich war ahnungslos vor zwei Tagen.
Ich bin es noch - an meinem zweiten Tag.
Ich bin es noch sehr lange - zu lang

Ich kann (noch) nicht wissen, welcher Keulenschlag
meine Seele so urplötzlich und mit aller Wucht vertrieben hat,
… urplötzlich, "auf einen Schlag",
… ohne jegliche Vorbereitung, Vorwarnung oder Ankündigung.


Es war ganz einfach ganz schrecklich!
Ich (und meine Familie, die mich beim ersten Besuch am 3. Tag vollkommen verändert vorfand) haben Bilder, die uns vermutlich nie mehr loslassen. Wir haben alle ein Trauma, das wir vermutlich immer in uns tragen werden.

Es klingt hier schon an, dass meine ersten Erfahrungen mit Neuroleptika alles andere als gut waren.
Dieser ersten existentiellen Krise im Jahr 1993, die als "psychotisch" diagnostiziert wurde, ich war
gerade 26 Jahre alt, folgten über zehn weitere, die allesamt sofort und massiv mit Psychopharmaka behandelt wurden.

Mehr zu meiner Haltung gegenüber Neuroleptika und wie ich die Gabe von Neuroleptika erlebt habe, findest Du auf der Seite: "Neuroleptika - Meine Haltung".