Der ver-rückte Sinn von Krisen


100% SEIN, Christiane Vogel, Persönliches und Kunst, www.wesensausdruck.de



Anmerkung vorab 11/2022:
Seit 30.09.1993 ist bei mir in der Psychiatrie in Heidelberg zunächst eine psychotische Episode diagnostiziert worden; seit 2002 wurde im PZN Wiesloch eine paranoide Psychose diagnostiziert.
Seit einigen Jahren glaube ich, dass ich diese Diagnose zu Unrecht erhalten habe. Ich hatte 1993 zwar eine existentielle  Krise in der ich durcheinander und aufgewühlt war, in der es mir schlecht ging und in der ich auch eine einzige Stimme vernommen habe, aber dennoch, so glaube ich, habe ich diese speziellen PSYCHOTISCHEN Krisen nie gehabt.

Ich bekam gleich beim ersten Psychiatrieaufenthalt starke Psychopharmaka (Neuroleptika), welche ich fast durchgehend fast 20 Jahre lang geschluckt habe. Ich habe immer, bis vor einigen Jahren, daran geglaubt, dass meine darauffolgenden Krisen PSYCHOTISCHE Krisen waren. An einen Zusammenhang zu Neuroleptika habe ich nicht gedacht. 

Ich kann jetzt aber nicht mehr beurteilen, ob die bekannten paradoxen Wirkungen der Neuroleptika eine in Studien belegte PSYCHOSEANFÄLLIGKEIT in meinem Gehirn geschaffen haben, die zum Ausbruch von  nun tatsächlichen psychotischen Krisen geführt hat oder welcher Art meine darauffolgenden Krisen waren.

(Näheres zum Thema Neuroleptika kannst Du der Seite "Vertreibung meiner Seele" und "Neuroleptika - meine Haltung" entnehmen.)

Ich glaube aber mehr und mehr, dass meine Persönlichkeit, so wie sie mir seit einigen Jahren bewusst wird und ich sie erlebe, keine Persönlichkeit ist, die typisch ist für einen Menschen mit Psychose.
Ich glaube, wenn meine existentielle Krise im Jahre 1993 und meine ersten weiteren Krisen anders behandelt worden wären, wenn ich andere wirkliche Hilfe erfahren hätte..., mein Leben ganz anders verlaufen wäre.

Ich bin jahrzehntelang als Mensch mit Schizophrenie gesehen und behandelt worden.  Doch ich habe den Eindruck, ich habe diese "Krankheit" nicht >>>  "Krankheit" in Anführungszeichen, denn ich habe, auch und gerade was Schizophrenie betrifft, sehr kritische Vorstellungen vom Krankheitsbegriff.

Was aber nicht gesehen und behandelt werden konnte - und auch ich selbst hatte bis vor kurzem keine Ahnung und keinen Zugang dazu - sind große Lebensthemen, die mir meine Krisen offenbart haben und die ich selbst in keiner meiner Therapien zum Ausdruck bringen konnte.


07/2020:
Ist Anders-Sein automatisch behandlungsbedürftig?

"Alles, was da ist, soll da sein", Geschehen lassen und Akzeptanz dessen was ist, wurde für mich auch wesentlich hinsichtlich Zeiten in meinem Leben, in denen ich mich in persönlichen Krisen befunden habe. Es war ein Prozess, die speziellen Gefühle und besonderen Wahrnehmungen meiner Krisen nicht mehr nur als krank abzuwerten.

Nicht alles was anders oder auch "nicht normal" ist, ist krank und behandlungsbedürftig.  Ich habe aufgrund einer höheren Sensibilität einfach viel mehr und Anderes wahrgenommen als das, was ich und die meisten Menschen in ihrem "normalen" Bewusstseinszustand erleben.
Mehr wahrzunehmen, mehrere Bewusstseinszustände zu kennen und sensibler als andere zu sein ist für mich in erster Linie eine besondere Gabe, eine Ressource, aus der ich schöpfen kann und eine Herausforderung, mit der ich lernen möchte umzugehen.
Denn das Erfahren der "normalen" Wahrnehmung bleibt mir ja zusätzlich erhalten und ist mir nur zeitweilig in einzelnen Aspekten nicht mehr präsent, taucht dann aber wieder auf.

Es ist für mich eine Frage der Toleranz - und auch eine Frage meiner eigenen Toleranz mir selbst gegenüber - ob beides, auch unterschiedliche Wahrnehmungsebenen sein dürfen.

(Mehr dazu auf der Seite "Neuroleptika - meine Haltung" .)


Was sagt mir mein Ver-rückt Sein über mich und mein Leben?


Anstatt also den Krankheitsaspekt in den Vordergrund zu stellen, habe ich begonnen zu hinterfragen, was meine Krisen- Erlebnisse mir über mich selbst und über mein Leben sagen wollen. Denn sie "fallen nicht vom Himmel auf mich herab", sondern sind das Ergebnis eines kreativen Prozesses meiner Psyche.

Mit einer Krise habe ich z.B. rückblickend meine Krebserkrankung verarbeitet. Die Todesängste und andere existenzielle Ängste, die ich während meiner Krebserkrankung weitgehend verdrängt hatte, tauchten ein halbes Jahr später, als ich die Krebserkrankung schon hinter mir hatte, verschlüsselt in einer Krise wieder auf. Das, was ich nun in der Krise an Ängsten erlebte, wäre für die Zeit der Krebserkrankung durchaus realistisch gewesen. Doch ich erlebte diese wahrscheinlich schon lang in mir schwelenden Urängste nun zeitlich versetzt, also nicht zum adäquaten Zeitpunkt. 

Diese Gefühle und Wahrnehmungen und der Sinnzusammenhang zu meinem Leben verstand ich erst viele Jahre später. Zum damaligen Zeitpunkt verstand sie niemand, so dass sofort alles mit Medikamenten schnell wieder zum Schweigen gebracht wurde.

So habe ich viele Inhalte meiner Krisen - oft erst im nachhinein - auf mein Leben beziehen können und sie machten - nachträglich - einen Sinn. 


Parallelen zwischen dem Krisen- Erleben

und dem Traumgeschehen


Wir alle halten im Traum vieles für selbstverständlich und wahr, was sich nach dem Aufwachen als unrealistisch für das konkrete Alltagserleben erweist. Dennoch haben aus meiner Perspektive die Inhalte, die sich im Traum verdichten, die Symbole und die enthaltenen Botschaften eine große Bedeutung für mein Leben - auch wenn ich sie vorerst nicht verstehe. Diesen Zusammenhang kann ich mit dem Krisengeschehen vergleichen. 

Sowohl Trauminhalte als auch Inhalte meiner Krisen habe ja ich selbst in meiner Psyche geschaffen und sie entspringen einem kreativen Prozess, der aus mir selbst kommt. Deshalb haben sie auch immer etwas mit mir selbst und meinem Leben zu tun. Im Traum so wie im Krisen-Erleben ist viel Weisheit verborgen. Oft bin ich verblüfft über die tiefe Symbolik meiner Kriseninhalte, die sich, vergleichbar mit der Symbolik von Trauminhalten, in meinen Krisen zeigt. Wenn ich mir diese anschaue, und sie auf mein Leben übertrage, kann ich sie als Bereicherung für mein Leben nutzen.

Psychose - ein Traum im Wachzustand, Christiane Vogel, Persönliches und Kunst, www.wesensausdruck.de




Wie viel Wert wird Erfahrungen von Betroffenen beigemessen?

Einseitige bio-medizinische Krankheits- und Behandlungsmodelle, die von Schizophrenie als einer rein körperlich bedingten Hirnstoffwechselstörung sprechen, die vorwiegend mit Medikamenten behandelt werden könne und die von vielen Medizinern leider noch immer vertreten werden, sind für mich und für viele andere Betroffene mittlerweile völlig indiskutabel.


Ich bedauere sehr, dass den Erfahrungen von Betroffenen oft so wenig Gehör geschenkt wird oder man dann so oft als "Einzelfall" abgespeist wird, dessen Erfahrungen nicht relevant hinsichtlich "wissenschaftlicher Erkenntnisse" seien.

Ich suche immer noch und immer wieder aufs Neue nach Wegen, mich selbst in meinem Anders-Sein in dieser, unserer (Um-)Welt auch leben und verwirklichen zu können.  Manchmal verzweifle ich fast an den Möglichkeiten, Realitäten und Gegebenheiten in unserer schnelllebigen Zeit, in der Menschen wie ich, die sensibler sind und mehr und andere Bedingungen brauchen, scheinbar gar keinen Platz haben oder finden können.


Mein ureigener Weg

Innerhalb meines ureigenen Wegs und Prozesses habe ich mittlerweile eine Kehrtwendung gemacht:
Weg von allen konservativen Ansprüchen und Haltungen hinsichtlich der Unerwünschtheit meines Erlebens, die ich viele Jahre immer wieder gehört und z.T. auch übernommen habe... -
Hin zu SELBSTANNAHME meines So-Seins und meiner eigener SELBST-WERTSCHÄTZUNG meines anderen Erlebens in den Krisen. 


Das ist nicht immer leicht, denn auch ich selbst neige dazu, mein Erleben oft als krank und absurd abzuwerten. Doch um so mehr ich aufgrund der Reflexion, z.B. über meine Kriseninhalte, wahrnehme, welch ein Reichtum in meinen  Krisen, meist erst auf den zweiten Blick erkennbar ist, um so mehr ich ihren Sinn erkenne..., um so mehr fühle ich mich darin bestärkt, meinem Weg, meinem Prozess, meinem "inneren Kompass" und meiner "inneren Spur" zu vertrauen und zu folgen.

Den Reichtum, den ich, hinter und trotz all dem Leid, das ich erlebt habe, dennoch mittlerweile wahrnehme, versuche ich nun einfühlbar zu machen, z.B. in meinen Filmen und in den darin enthaltenen, sehr sehr persönlichen Erfahrungsberichten zum zeitweiligen Leben in einer anderen Welt und in den in den Filmen thematisierten Ressourcen, die dahinter verborgen schlummern.


Fazit:

Ich möchte all das Leid, das die Krisenzustände ebenfalls oft - für mich und andere - mit sich bringen, auf keinen Fall verschweigen oder bagatellisieren. Einige Episoden, verbunden mit starken Nebenwirkungen der Medikamente, waren für mich die schlimmsten Zeiten meines Lebens, der reinste Horror!!! Auch meine Angehörigen und meine Umwelt hatten viel zu (er)tragen.


Dennoch: Ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen: Wenn ich mich diesen zunächst als absurd erscheinenden Zuständen zuwende und versuche, sie zu verstehen, machen sie durchaus Sinn und haben eine Bedeutung für mein Leben. Gerade meine Krisen ermöglichten mir Einsichten über mich selbst und wiesen mir Wege, die ich ohne mein "Ver-rückt-Sein" nicht wahrgenommen hätte.


Demzufolge versuche ich, diese Zustände nicht nur als lästiges Übel zu tolerieren, sondern sie viel mehr wertschätzend anzunehmen und zu akzeptieren als einen Teil von mir selbst, als etwas, das auch zu mir dazugehört.

Mein Ziel ist es, sie in mein Leben zu integrieren. Vielleicht wird durch Akzeptanz, Auseinandersetzung und Integration dieser "Schattenanteile" diese Art von Krisen eines Tages einmal überflüssig??? Das wird für mich vielleicht zu erfahren sein.


Meine Wünsche:

Ich glaube daran, dass, wenn man durch eine Krise hindurchgeht, sich ihr stellt und sie nicht nur unermüdlich bekämpft, man sogar gestärkt, reifer und bereichert aus ihr hervorgehen kann.
Meine tiefe Überzeugung und Erfahrung ist:
Mein Weg aus der Krise heraus, führt mitten durch sie hindurch.

Deswegen wünsche ich mir in meinem Fall so sehr:
Mehr Menschen, die Menschen mit existentiellen Krisen nicht ausschließlich nur bei der Bekämpfung der Symptome unterstützen, sondern die gewillt sind, diese Menschen durch ihre Krisen zu begleiten und sie bei der Bewältigung und dem Umgang mit diesen besonderen Erlebnissen zu unterstützen.


Ich wünsche mir und vielen anderen Betroffenen, BegleiterInnen auf Augenhöhe durch die Krise hindurch. Zu einem gemeinsamen Hindurchgehen und Durchstehen braucht es für mich Menschen, die ihre eigenen Ängste reflektieren können und in Folge dessen nicht gleich mit großer Angst auf jedes psychotisch erscheinende Symptom schauen, sondern darauf vertrauen können, dass es auch möglich sein kann, eine existentielle Krise zu bewältigen und durch sie hindurchzugehen, ohne diese all zu schnell mit Medikamenten zu unterdrücken. (Siehe Seite "Neuroleptika - Meine Haltung")

Ich wünsche mir Menschen, die Betroffene darin unterstützen - wenn diesen das wichtig ist - den Sinn der Krisen-Inhalte und deren Zusammenhänge zu verstehen.

Ich wünsche mir eine Welt, in der auch anders fühlende, anders denkende und anders wahrnehmende Menschen, die eine andere oder auch manchmal intensivere Sensibilität und Empfindsamkeit "mitbringen", (über-) leben können, Sein dürfen und in ihrem So-Sein vor dem Hintergrund der Bejahung einer Gesellschaft, in der Vielfalt willkommen und wünschenswert ist, wertgeschätzt werden.

Ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft einen Prozess vollzieht, weg von ausschließlichen Lippenbekenntnissen hin zu wirklicher Wertschätzung und hin zu wirklicher, auch praktisch und konkret verstandener Inklusion, die im eigenen Lebensprozess auch gelebt und verwirklicht wird. Wir brauchen ein Umdenken und eine wirkliche authentische Veränderung in der Seele der uns umgebenden Menschen.

Die Welt ist oft kaum so, dass wir in ihr mit unserer besonderen Sensibilität und mit dem, was wir mehr und Anderes brauchen, erfüllend leben können.
Viele mit Schizophrenie diagnostizierte Menschen haben keine eigene Stimme mehr und auch keine Lobby und wir sind zu wenig, um allein etwas erreichen zu können.
Wir brauchen Euch, die "Gesunden", auch die Profis, die hinter uns und unseren besonderen Bedürfnissen stehen und diese nach außen hin auch vertreten, unterstützen und dafür kämpfen. Wir brauchen Eure Unterstützung, einen wechselseitigen Austausch und ein Lernen voneinander, damit sich etwas verändern kann.

Auch wir selbst haben Euch viel zu geben und können zu einer Bereicherung für Euch werden.
Das ist für mich ein wechselseitiger Prozess, ein Geben und Nehmen.

Ich bin überzeugt: Jede existentielle Krise, auch die am absurdesten erscheinende, birgt ungeahnte Kräfte und kreative Fähigkeiten, die für das eigene Leben  - und auch das der Mitmenschen - sehr bereichernd sein können, wenn man sie nutzen kann und lernt, damit umzugehen.